SON - Markus Heinsdorff

Kunst und Wissenschaft. Zwei auf den ersten Blick sehr unterschiedliche Disziplinen. Während es in der Wissenschaft darum geht, rationale und nachvollziehbare Erkenntnisse von Zusammenhängen, Abläufen, Ursachen und Gesetzmäßigkeiten zu erforschen, um damit unser Wissen zu erweitern, vorausschauend zu planen und die Wirklichkeit gezielt zu verändern, werden der bildenden Kunst eher Attribute wie Intuition, Imagination, Phantasie und Kreativität zugeordnet. Mit dem vermeintlichen Anspruch auf absolute Zweckfreiheit wird der Kunst häufig eine Distanz zum sogenannten - nennen wir es - Ernst des Lebens unterstellt. Und wenn man Kunst so definiert, steht sie tatsächlich in direktem Gegensatz zum Kausalitätsdenken der Wissenschaft.

Ich möchte an dieser Stelle auf ein Zitat von Paul Valéry hinweisen, der meinte: "Intuition ohne Intellekt ist ein Unglück", und bei genauerer Betrachtung haben die beiden "Kulturen" Kunst und Wissenschaft glücklicherweise mehr gemeinsam, als zunächst vermutet. Sowohl Künstler als auch Wissenschaftler sind im Grunde ihres Wesens Visionäre. Beide sind leidenschaftliche Beobachter. Wißbegierig sind sie stets auf der Suche nach neuen Wegen und Einsichten, forschen und erforschen, experimentieren, überprüfen, analysieren und versuchen dabei immer wieder, Grenzen zu überschreiten, um zu neuen Erkenntnissen zu gelangen.

Die Verflechtung beider Disziplinen nahm ihren Anfang bereits im 15. Jahrhundert, als sich zahlreiche Künstler der Renaissance auch mit der Erforschung verschiedenster Wissenschaften auseinandersetzten. Gerade Künstler hatten einen entscheidenden Anteil an der Entwicklung von Mathematik, Zentralperspektive, Mechanik, Optik und Anatomie, was sich im Umkehrschluß selbstverständlich auch auf die Kunsttheorie auswirkte.

Als ganz besonders herausragende Persönlichkeit dieser Zeit möchte ich Leonardo da Vinci ins Bewußtsein rufen, dessen Leben und Wirken ganz entscheidend durch die Unteilbarkeit und Durchdringung von Kunst und Wissenschaft geprägt ist. Unablässig beobachtend, registrierend und analysierend, schuf er nicht nur als Künstler sondern eben auch als Wissenschaftler und Techniker ein riesiges Werk. Wann immer ihm ein Problem unterkam, stellte er Experimente an, um die Lösung zu finden. Es gab nichts in der ganzen Natur, das seinen Forschungstrieb nicht gereizt hätte.

Er forschte nach den Rätseln des menschlichen Körperbaus und sezierte mehr als dreißig Leichen, um den Verlauf der Adern, Muskeln und Sehnen zu zeichnen und zu beschreiben. Er war einer der ersten, der das geheimnisvolle Wachstum des Kindes im Mutterleib wissenschaftlich untersuchte; er beobachtete die Strömungen und Wirbel des Wassers und der Luft, widmete viele Jahre dem Studium des Insekten- und Vogelfluges, mit dem Ziel, selbst eine Flugmaschine zu konstruieren. Die Formationen der Felsen und der Wolken, der Einfluß der Atmosphäre auf die Farben entfernter Gegenstände, die Gesetze des Wachstums der Blumen und Bäume, die Harmonien der Töne, all das und vieles mehr wurde zum Gegenstand seiner rastlosen Forschungen.

Die Ergebnisse hielt Leonardo in seinem künstlerische Werk fest. Er ist damit der eigentliche Begründer der wissenschaftlichen Illustration und der technischen Zeichnung. Für Leonardo waren die sogenannten freien Künste, die Artes Liberales eine wissenschaftliche Grundlage für die Malerei. Sein Ehrgeiz war, zu zeigen, daß die Malerei zu den freien Künsten gehöre und daß der Künstler beim Malen die Hände nicht mehr brauchte als der Dichter beim Schreiben.

Soweit zu den Anfängen! Auch noch heutzutage sind wissenschaftliche Erkenntnisse für viele Künstler Grundlage und Fundus ihrer Auseinandersetzungen. Denken wir beispielsweise an den international bekannten Künstler James Turrell, der sich seit über 20 Jahren u.a. mit dem Ausbau eines erloschenen Vulkans in Arizona beschäftigt. Dieses Land-Art-Projekt basiert auf fundierten Kenntnissen der Vermessungskunde, Kartografie, Astronomie, Lichttechnologie und Ingenieurskunst. Der Künstler baut hier ein Geflecht aus Gängen, Farbkammern und Erlebnisräumen, die den Ausblick zum Himmel und dessen astronomischen Besonderheiten ermöglichen. Der Roden Crater bildet also gewissermaßen eine Synthese aus Mythos und Technik, Kalkül und Ritual, Natur und Kunst.

Wenden wir uns nun - nach der langen Vorrede zum Verhältnis von Kunst und Wissenschaft - den hier ausgestellten Arbeiten des Münchner Künstlers Markus Heinsdorff zu. Der Schwerpunkt seines Schaffens liegt in der thematischen Auseinandersetzung mit dem Ausstellungsort, der für ihn ein Experimentierfeld darstellt und auf den sich seine Arbeiten stets beziehen. Heinsdorffs Arbeiten situieren sich im Spannungsfeld von vorgefundenem Raum und inhaltlicher Bedeutung. Eine besondere Rolle spielen dabei Bewegung, Rhythmus und Dynamik. Das Instabile und Fragile sowie die Prozesse fortlaufender Veränderung sind wesentlicher Bestandteil seines künstlerischen Konzepts. Markus Heinsdorff hat eigens für diese Ausstellung hier in der Max-Planck-Gesellschaft drei neue Arbeiten konzipiert, die in ganz unterschiedlicher Form das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft thematisieren.

Eine der drei Installationen trägt den Titel: "Der Denker" und bildet in einem großformatigen Ausschnitt eine der bedeutendsten Skulpturen des französischen Bildhauers Auguste Rodin ab. Das Abbild des Denkers hat Heinsdorff in seiner Lichtinstallation in 18 quadratische Einzelfelder zerlegt, wobei die Bildvorlage zuvor am Computer digital bearbeitet wurde. Durch einen Zufallsgenerator gesteuert, blitzen die einzelnen Leuchtkästen wie Mosaiksteine in ständigem Wechsel auf. Das hat zur Folge, dass wir dem ohnehin unvollständigen Bildausschnitt nicht habhaft werden können.

Der Denker, ein Symbol für die Wissenschaft schlechthin. Analog zum Vorgehen in der wissenschaftlichen Forschung, wird der Ausschnitt eines Abbilds bei Heinsdorff in Einzelteile zerlegt. Damit hört der Eingriff jedoch noch nicht auf: Der Künstler experimentiert mit den technischen Möglichkeiten der Bildbearbeitung und nutzt die Angebote der digitalen Visualisierung spielerisch aus. Die dreidimensionale Skulptur Rodins wird zunächst in ein zweidimensionales Foto überführt, dessen Auschnitt beim Einscannen in den Computer eine weitere Verfremdung erfahren hat. Vom dreidimensionalen Objekt zum Abbild, vom Abbild zum Pixel!

Die geistige Versenkung, die der Denker in seiner ursprünglichen Form zum Ausdruck bringt, weicht hier einem vibrierenden Wechselspiel des Lichts. Der Blick des Betrachters wird durch den unberechenbaren Zufall der aufblitzenden Quadranten gelenkt. Gewöhnlich ist er geneigt, ein Kunstwerk entsprechend seiner persönlichen Sehgewohnheiten, dem willkürlichen Wandern seines Blickes und mit seinem individuellen Tempo zu erforschen. Das wird hier unmöglich gemacht.

Der Blick auf das Gesamtbild verschwindet in der Vielzahl der mosaiksteinartige aufblitzenden Einzelbilder. Die Summe der Details bildet das Gesamte zwar ab, jedoch können sie in Heinsdorffs Installation nicht mehr auf einen Blick erfaßt werden. Ein Sinnbild für das Wissen unserer Zeit? Einem Wissen, das sich von dem Anspruch auf Universalität verabschiedet und sich stattdessen in kleinste Teilbereiche aufgesplittert hat, die nur noch Spezialisten zugänglich ist.

Vielleicht ein ganz notwendiger Hinweis darauf, dass uns die Komplexität einer vernetzten, globalen Wirklichkeit zu überfordern droht. Doch bei Heinsdorffs Denker kommt noch hinzu, dass selbst dem Ausschnitt in seiner reduzierten Komplexität auch keine Verlässlichkeit mehr innewohnt. Das Bild ist da und es ist nicht da, indem es dem Basiscode des Computers: "1" oder "0", "an" oder "aus" gehorcht.

Die zweite Arbeit von Markus Heinsdorff trägt den Titel "Sphäre". Es handelt sich dabei um eine ca. sieben Meter über dem Boden schwebende monumentale Kugelform aus durchsichtigen, übereinander gewickelten Schläuchen. Aus einem Becken wird Farbe in die transparenten Kanäle gepumpt.

Diese Arbeit beschreibt die Form einer Kugel, deren Totalität allerdings - ebenso wie beim "Denker" - gewissermaßen fragmentiert erscheint. Die Zu- und Abläufe der Schläuche, welche die Kugel wie durch eine Nabelschnur mit der farbigen Flüssigkeit versorgen, erinnern nicht zuletzt auch durch ihre Materialität an eine experimentelle Versuchsanordnung.

Der Künstler erscheint uns gleichsam als Forscher, der die Technik für sich arbeiten lässt. Heinsdorff experimentiert hier mit physikalischen Zusammenhängen in Form einer quasi-technologischen Installation: Wasser bzw. flüssige Farbe fließt eben nicht aufwärts, sondern kann nur mit Hilfe der Technik die Schwerkraft überwinden. Heinsdorff reizt die physikalischen Möglichkeiten aus und experimentiert mit Gewicht und Druck, spielt mit der Dialektik von Schwere und Leichtigkeit, von Schwerkraft und Überwindung derselben.

Sowohl Form als auch Titel der Arbeit lassen zahlreiche Assoziationen zu. Man denkt beispielsweise an kreisende Planeten, die Umrundungsbahnen eines Satelliten oder gar an ein Atom mit zirkulierenden Elektronen.

Und last but not least möchte ich noch kurz ein paar Worte zur dritten Arbeit mit dem Titel "Wassermusik" sagen. Es handelt sich dabei um eine Klanginstallation. Über ein kreisrundes Metallrohr wird Wasser aus fünf Glasbehältern (sogenannte Gallonen à 50 l) geleitet, das durch kleine Öffnungen an verschiedenen Stellen austritt. Der beschriebene Kreislauf wird unterbrochen. Die Tropfen fallen auf Konservendosen, die gewissermaßen als Klangkörper dienen. Durch den Aufprall der Wassertropfen entstehen Klänge unterschiedlicher Höhe und Intensität. Die unterschiedlichen Rhythmen und Tonhöhen verschmelzen also zu einem wechselvollen Klangbild. Materie, hier das Element Wasser, transformiert sich gleichsam in einem Qualitätswechsel zur akustischen Welle.

Markus Heinsdorff legt betont Wert darauf, die Geräusche seiner Installationen - vor allem technischer Natur: das Klickern der Zufallsgeneratoren beim "Denker" oder die Hydraulik der Pumpen bei "Sphäre" - als integralen Bestandteil seiner Arbeiten wahrzunehmen. Die akustische Welle, der Klang, wird hier in ein unmittelbares Verhältnis zur visuellen Form gestellt und ermöglich uns dadurch ein synästhetisches Erlebnis.

Oder um mit dem spanischen Philosophen Ortega y Gasset zu sprechen: "Erst die Summe aller Perspektiven ergibt ein Bild der vollen Wirklichkeit."

Auswahl Katalogtexte:
Dr. Elmar Zorn
Kunsthistoriker, Freier Austellungskurator

Dr. Susanne Ehrenfried, Kunsthistorikerin, ist
Kuratorin der Münchner Rückversicherungsgesellschaft