Tenso - Markus Heinsdorff

Seit 1996 prägt eine Arbeit von Markus Heinsdorff die Münchner Pfenningparade: die kinetische Dauerinstallation Tenso. Stahlseile bilden ein Netzwerk, das die Passage zwischen Gebäuden überbrückt und im bogigen Mittelbereich die Horizontalachsen von fünf identischen Rotoren trägt. Diese Rotoren sind symmetrische Körper, die sich jeweils sowohl um die Horizontalachse als auch um eine Mittelachse bewegen; von ihren leicht gekrümmten Deckflächen, aus gewelltem Aluminiumblech, geht ebenso die Anmutung technischer Präzision aus, wie von den Lagern mit zylindrischen Muffen und ihren Tarierstäben. Überhaupt hat das Ganze ein ausgesprochenes High-Tech-Gepräge.

Das von Spannseilen in den Raum geschriebene Linienmuster, die wirbelnde Bewegung, in die schon ein leiser Luftzug die Rotoren versetzt, die ständigen Wechsel der Umlaufgeschwindigkeit und das mit der Windstärke alternierende Schwanken des gesamten Ensembles, das Spiel von Licht und Schatten auf den schimmernden Metallflächen, das alles gibt dem Technisch-Schlüssigen eine Wendung ins Eigenwertige. Anders gesagt: Ein hohes Maß an Technik ist um des Ästhetischen willen aufgeboten, das, anders als bei früheren Seilinstallationen Heinsdorffs, nicht nach potentiellen Nebenzwecken fragen läßt. In der Tat war die Zusammenarbeit von Statikern notwendig, um der Verspannung die vorschriftsgemäße Zuverlässigkeit zu sichern; und es mußten Lager- und Verzweigungselemente verwendet werden, wie sie für hochbeanspruchte technische Konstruktionen üblich sind.

Markus Heinsdorffs bildnerische Phantasie bewegt sich zwischen zwei Polen: einerseits einer Technizität, die sich einem poetischen Ansatz verdankt und eher metaphorisch bleibt, andererseits die ingenieurmäßige Konstruktion, deren Aufgabe die Hervorbringung ästhetischer, das heißt auf ihre Weise poetischer Wirkung - und, wie sich zeigen wird, mehr als das - ist. Der Künstler schaltet frei zwischen diesen Positionen; und er kann das, weil er bemerkenswerte technische Kenntnisse und einen entwickelten Sinn für komplexe Strukturen besitzt. Daß er als Goldschmied angefangen hat, mag einiges erklären; wichtiger ist ein waches Interesse für das, was im technischen Bereich bildnerisch nutzbar ist. Denn entscheidend bleibt die Form mit allen ihren Implikationen - darunter eben auch den technischen. Als angehöriger einer Künstlergeneration, für die Individualstil nichts mehr mit der Verpflichtung auf eine gefundene Formensprache zu tun hat, nimmt sich Heinsdorff die Freiheit, ein Grundkonzept nach verschiedenen Seiten hin zu entfalten. Seine Arbeiten lassen sich daher nicht in eine stringente Folge bringen, sondern allenfalls Werkgruppen zuordnen, die in sich wieder vielfältig sind.

So originell die Lösung der Permanentinstallation in der Pfennigparade ist: Tenso steht in einer Tradition, die bis in die Frühzeit der Moderne zurückreicht. 1920 stellte Naum Gabo seine Stehende Welle vor, eine einfache, aber ungemein einprägsame kinetische Konstruktion, deren elektrisch generierter Bewegungsrhythmus Zeit zum unmittelbaren Erlebnis werden ließ. Wenig später, nämlich in den Jahren von 1922 bis 1930, schuf L. Moholy-Nagy sein berühmtes Lichtrequisit einer elektrischen Bühne (Licht-Raum-Modulator), eine kunstreiche Maschinerie, die das Zusammenspiel von Körper, Raum und Licht im Sinne einer „vitalen Konstruktivität" augenfällig machte. In seinem Bauhausbuch Vom Material zur Architektur definierte dieser Künstler 1929 die kinetische Plastik als „höchste sublimierung der volumeninhalte, bildung von virtuellen, doch mit äußerster spannung erfüllten volumenbezeichnungen"; und als Vorstufe dafür versteht er das, was er „schwebende Plastik" nennt: „während die statischen auf einer unterlage ruhenden plastiken in bezug auf ihre umgebung eine bestimmte lage einnehmen und innerhalb dieser lage richtungsbeziehungen zur erde: horizontal, vertikal, schräg - enthält die schwebende plastik, zunächst theoretisch, die material bzw. volumenbeziehungen und alle zugehörigen attribute nur in bezug auf das eigene system"

Mit derartigen Werken und Vorstellungen war der Weg für eine aufregende, alle herkömmlichen Dogmen dreidimensionalen Gestaltens radikal verwerfende Entwicklung freigemacht. Der den motorischen Antrieb favorisierende Zweig der kinetischen Kunst hat bis in unsere Tage eine kaum überschaubare Fülle von Lösungen hervorgebracht. Nicht weniger einfallsreich war und ist der andere, auf die Naturkräfte Wind und Wasser vertrauende Zweig. Die Mobiles von Alexander Calder wären als allgemein bekannte, aber technisch vergleichsweise unraffinierte Beispiele windbewegter Werke zu nennen, die kinetischen Objekte seines amerikanischen Landsmannes George Rickey als Musterbeispiele für das, was aus der Verbindung von prägnantem Formdenken und ingenieursmäßigem Kalkül hervorgehen kann.

Markus Heinsdorff weiß in seinen kinetischen Inventionen alle Register zu ziehen. Er hat, etwa in der dreiteiligen Rauminstallation Arbeitszeit im Kölner Klöckner-Humbold-Deutz-Turm von 1994, elektromagnetische Mittel angewendet. Aber er hat noch öfter die Chance genutzt, für seine Arbeiten menschliche Körperkraft oder den Wind in Dienst zu nehmen. Auf Muskelbewegung antwortet etwa die Begehbare Maschine von 1985, auf Windimpulse reagieren der Drehturm auf dem Gelände der Technischen Universität in Berlin von 1987, die siebenteilige Gruppe propellertragender Stützen vor der Schule in München-Perlach von 1994 oder der Bogen im Hof des IBM-Gebäudes an der Münchner Leopoldstraße von 1995; außerdem eine Reihe temporär bestehender Werke, wie die 1988 eine Straße in Cagliari überspannende farbige Objektgruppe Colori di Vento, das 1989 in München aufgestellte kinetische Turmobjekt Jetlack oder die mehrteilige Installation über dem Münchner Isarkanal von 1990.

Tenso kommt, was Lösungen vom Boden und die unablässig produzierten virtuellen Volumina angeht, Moholy-Nagys Vision einer schwebenden Plastik nahe, doch es ist keineswegs nur auf das eigene System bezogen, sondern in eine vorgegebene architektonische Situation hineinkomponiert, welche für Art und Form der Anbringung weitgehend verbindlich war. Bei aller Technizität ist der transfunktionale Charakter von Tenso ganz und gar wirkungsbestimmend. Man erfährt die Drehung der Rotoren und das Vibrieren der Spannseile als ein Spiel, das inmitten von Gebautem die Anwesenheit von Natur bezeugt. Das mag paradox klingen, scheint mir aber entscheidend, denn ist die von der Luftbewegung induzierte Objektbewegung etwas anderes als ein der Statik der Architektur entgegengerichtetes Natursignal? Dem Begriff des Spiels wächst damit eine Dimension jenseits des Vergnüglichen und Selbstgenügsamen zu: Der technischen Anforderungen genügende Gegenstand erweist sich dank seiner Fähigkeit, auf Kräfte zu antworten, die vom Menschen nicht oder nur sehr eingeschränkt beeinflußbar sind, als Bedeutungsträger eigenen Ranges. In Tenso hat sich die dem ästhetischen eigentümliche Zweckfreiheit auf überzeugende Weise mit Sinnhaltigkeit verbündet.

Prof. Peter Anselm Riedl
Kunsthistoriker, Universität Heidelberg